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Für eine andere Türkei-Politik der EU!

In der außenpolitischen Debatte des Europaparlaments in Straßburg steht diese Woche die Entwicklung der Beziehungen zur Türkei ganz oben auf der Agenda. Dabei müssen drei Themen besondere Beachtung finden:

  • die dramatische Menschenrechtssituation in der Folge des gescheiterten Putsches

  • der Krieg zwischen der türkischen Regierung und der Kurdischen Arbeiterpartei PKK

  • die Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei in der Flüchtlingspolitik, insbesondere im Rahmen des „Türkei-Deals“

Zu diesen Aspekten möchte ich einige Gedanken zur aktuellen Debatte beitragen.

Gegen den Putschversuch und für die Einhaltung der Menschenrechte

In den letzten Wochen wurde aus Ankara immer wieder der Vorwurf laut, dass Repräsentanten der EU und ihrer Mitgliedstaten nicht entschieden genug gegen die gescheiterten Putschisten Stellung bezogen hätten. Dabei haben Vertreter der EU immer deutlich gemacht, dass sie den blutigen Umsturzversuch ablehnen. Derartige Vorwürfe scheinen in erster Linie ein Ausdruck der angespannten Beziehungen zwischen der EU und dem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu sein.

Natürlich muss der gescheiterte Putsch vom 15. Juli verurteilt werden. Eine deutliche Positionierung muss allerdings mit einer ebenso entschiedenen Kritik an den Menschenrechtsverletzungen einhergehen, für die türkische Behörden seither verantwortlich sind. Tausende Personen wurden im Zusammenhang mit den Ereignissen inhaftiert. Mit der Ausrufung des Notstandes hat die Regierung Schutzmechanismen für Häftlinge außer Kraft gesetzt. Auch die jüngste Absetzung von 28 Bürgermeistern im Südosten des Landes wäre ohne den Notstand nicht möglich gewesen.

Menschenrechtsorganisationen berichten von Misshandlungen und Folter in den Gefängnissen. Bei der Entlassung zehntausender Staatsbediensteter und der Schließung zahlreicher Medien werden rechtsstaatliche Prinzipien schlicht ignoriert. Angesichts dieser Entwicklungen muss die EU noch nachdrücklicher darauf drängen, dass Menschenrechte respektiert und Rechtsstaatlichkeit geachtet werden.

Selbstverständlich wirft die derzeitige Menschenrechtssituation auch Fragen nach Konsequenzen für die seit dem Jahr 2005 laufenden EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf. Leider müssen wir feststellen, dass die Chancen auf eine Mitgliedschaft des Landes in den letzten Jahren deutlich gesunken sind. Trotzdem steht außer Frage, dass ein Abbruch der Verhandlungen kontraproduktiv wäre. Beide Seiten müssen ihren Dialog fortsetzen. Wir dürfen die Türkinnen und Türken, die sich durch die Annäherung eine Verbesserung der Lage im Land versprechen, nicht noch mehr enttäuschen, als wir es durch eine zuletzt wachsweiche Politik gegenüber der Regierung Erdogan schon getan haben. Bei den Gesprächen müssen Menschenrechte eine zentrale Rolle einnehmen.

Türkisch-kurdischen Friedensprozess wiederbeleben und ausweiten

Die EU muss sich für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen der türkischen Regierung und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) einsetzen. Zweifellos sind beide Seiten dafür verantwortlich, dass der Friedensprozess vor einem Jahr gescheitert ist, was zu einer erneuten Eskalation der Gewalt mit hunderten Toten geführt hat. Allerdings lässt das Vorgehen Erdogans daran zweifeln, dass ihm derzeit an einer Beilegung des Konfliktes gelegen ist.

So hat sich seit Ende August die Lage durch den Einmarsch türkischer Bodentruppen in Syrien noch weiter verkompliziert. Die türkische Armee bekämpft dort, an der Seite der Freien Syrischen Armee, nicht nur radikal islamistische Gruppen wie den Islamischen Staat, sondern auch die YPG, die mit der PKK kooperierende kurdische Miliz in Syrien. Die türkische Regierung will so verhindern, dass sich an ihrer Südgrenze ein kurdisch kontrolliertes Territorium stabilisiert. De facto sorgt sie für weitere Eskalationen in der Region – und nicht zuletzt für die in den Wirren des syrischen Krieges bezeichnende Situation, dass sich mit FSA und YPG nun zwei Verbände gegenüberstehen, die beide vom Westen unterstützt werden.

Dieses Vorgehen sollte die EU gegenüber Staatschef Erdogan deutlich kritisieren. Sie muss darauf drängen, dass die Angriffe eingestellt werden. Kurzfristig braucht es vertrauensbildende Maßnahmen, mittelfristig einen Dialog zwischen beiden Parteien. Da eine Gesamtlösung für den Syrienkonflikt nicht absehbar ist, scheint es wahrscheinlich, dass sich die im März dieses Jahres ausgerufene kurdische Autonome Region in Nord-Syrien weiter konsolidieren wird. Langfristig wird sich die Türkei daher darauf einstellen müssen, sich mit diesem Nachbarn zu arrangieren.

Zuflucht und Schutz für Flüchtlinge

Mit mindestens 2,7 Millionen syrischen Geflüchteten ist die Türkei das Land, in dem die meisten Menschen aus dem Bürgerkriegsland Syrien Zuflucht finden. Diese Aufnahmebereitschaft verdient zunächst Europas Anerkennung und Unterstützung. Gleichfalls müssen wir nüchtern feststellen, dass sich europäische Regierungen und die Türkei in erster Linie gemeinsam darum bemühen, Menschen an der Flucht zu hindern. Es geht nicht darum, dass weniger Menschen fliehen; es sollen bloß weniger bei uns ankommen.

Der „Türkei-Deal“ ist, wie abzusehen war, zu einer Vereinbarung geworden, um internationale Standards zum Schutz von Flüchtlingen zu untergraben. Das individuelle Recht auf ein Asylverfahren ist nicht gewährleistet, viele Geflüchtete fristen unter katastrophalen Bedingungen ihr Dasein in Gefängnissen oder ohne jegliche Unterstützung in türkischen Dörfern und Städten.

Bereits vor diesen Absprachen im März dieses Jahres war bekannt, dass die Türkei immer wieder Schutzsuchende aus Syrien abweist und auch dorthin zurückschickt. Außerdem liegen glaubwürdige Berichte von Menschenrechtsorganisationen darüber vor, dass die türkische Regierung die Kontrollanlagen an der Grenze verschärft und Schutzsuchende – auch durch den Einsatz von Schusswaffen – am Übertritt hindert. Zuletzt kündigte die türkische Regierung an, Selbstschussanlagen an der syrisch-türkischen Grenze errichten zu wollen.

Statt mit allen Mitteln eine noch stärkere Abschottung vor Flüchtlinge durchzusetzen, sollte sich die EU gegenüber Erdogan dafür einsetzen, dass Schutzsuchende aus Brandherden – wie derzeit in Aleppo oder vielleicht bald in Mossul – Zuflucht in der Türkei finden. Dazu gehört auch, dass sich die EU und ihre Mitgliedstaaten in angemessener Weise gegenüber der Türkei und anderen Ländern der Region dazu verpflichten, Resettlement-Projekte umzusetzen und andere Formen der legalen Einreise in die EU zu etablieren.

Zugleich dürfen wir jedoch nicht außer Acht lassen, dass Erdogan selbst Fluchtgründe schafft: Die Eskalation im Kurdenkonflikt, das repressive Vorgehen gegen Journalisten, Regimekritikerinnen und vermeintlich Beteiligte am Putschversuch sowie die undemokratische Regierungspolitik zwingen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen.

Die Türkei ist derzeit also weder ein sicheres Drittland noch ein sicherer Herkunftsstaat. Deshalb darf der Türkei-Deal nicht weitergeführt werden. Die Erdogan-Regierung darf nicht in flüchtlingspolitische Maßnahmen eingebunden werden, die ohnehin nur die Abschottung Europas zum Ziel haben. Das aber setzt voraus, dass wir in Europa grundlegende Reformen in der Asyl- und Migrationspolitik endlich umsetzen – hin zu einer gemeinsamen Seenotrettung, sicheren und legalen Fluchtrouten sowie einer Ablösung der gescheiterten Dublin-Verordnung durch ein System der solidarischen Umverteilung zwischen den Mitgliedstaaten, notfalls im kleineren Staatenverbund. Im Vordergrund jeder künftigen Verhandlung um die EU-Mitgliedschaft müssen Fragen der Demokratie sowie der Menschenrechte stehen.

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