Am Montag, den 17. September, hatte die Heinrich Böll Stiftung in Tunis zu einer Diskussionsrunde mit Vertretern von 13 Menschenrechtsorganisationen eingeladen, die im Juli einen "Pakt für Gleichheit und Individuellen Freiheiten" veröffentlicht hatten. Anlass dieses Aufrufs war die Veröffentlichung des Berichts der vom Präsidenten eingesetzten Menschenrechtskommission (COLIBE) im Monat davor, in dem eine Reihe von Reformvorschlägen gemacht wurden. Die COLIBE Empfehlungen umfassen auch Gesetzesänderungen, denen weite Teile der tunesischen Bevölkerung skeptisch gegenüberstehen, darunter die Entkriminalisierung von Homosexualität, die Gleichstellung von Frauen mit Männern im Erbrecht und die Abschaffung der Todessstrafe. Somit bleibt die Umsetzung der COLIBE Empfehlungen zum Teil fraglich. Gewiss ist jedoch, dass der COLIBE Bericht eine wichtige Debatte über die zukünftige Ausrichtung Tunesiens angestoßen hat. Es wird sich zeigen müssen, in welchen Bereichen das Lager der gemäßigten Islamisten und das Lager der Säkularen zueinander finden können, in welchen nicht.
Die Diskussionsrunde mit den Menschenrechtsaktivist*innen war für mich sehr interessant und eine ausgezeichnete Vorbereitung für meine Gespräche mit Parlamentarier*innen und Regierungsvertreter*innen in den folgenden beiden Tagen.
Die Aktivist*innen berichteten:
Die Diskussion über COLIBE zeige, dass Kämpfe weitergeführt werden müssen, von denen die Aktivist*innen dachten, dass sie bereits mit der Verabschiedung der Verfassung gewonnen waren.
Die Umsetzung der neuen Verfassung, die Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Persönlichkeitsrechte garantiert, werde immer wieder behindert: Entweder seien Richter und Beamten nicht bereit, entsprechende Gesetze anzuwenden oder schlecht ausgebildet und hätten keine Kenntnisse. Erschwerend kommt auch hinzu, dass die Ernennung des Mitglieder des 12-köpfigen Verfassungsgerichtes noch nicht gelungen ist.
In unserer Runde gab es auch einige Menschenrechtsaktivisten, die sich weitreichendere Positionen im COLIBE-Bericht gewünscht hätten, beispielsweise zu den Rechten von Menschen ohne binäre Geschlechtsidentität oder zur Religionsfreiheit derjenigen, die keiner oder nicht einer monotheistischen Religion angehören. Der Kampf um echte Religionsfreiheit sei ein wichtiges Thema.
Insgesamt waren sich die Gesprächsteilnehmenden jedoch einig, dass der COLIBE-Bericht eine wichtige Reforminitiative darstellt und im Vergleich mit anderen arabischen Staaten sehr fortschrittliche Positionen vertritt. Wesentliche Herausforderung für die zivilgesellschaftlichen Akteure sei daher, nun in der Bevölkerung für ausreichende Unterstützung zu werben.
Alle äußerten ihre Sorge darüber, dass sich trotz positiver Reformen die reale Situation nur unzureichend verbessert hat. Festzustellen sei, dass Folter zwar nicht mehr systematisch angewendet wird, sich die Institutionen aber nicht geändert haben; jetzt geschehe Folter auf willkürlicher Basis. Dabei seien insbesonders Menschen gefährdet, die als vermeintliche oder tatsächliche Angehörige der LGBTI-Community oder als Terrorverdächtige festgenommen werden.
Problematisch sei, dass es keine grundlegende Reform des Sicherheitsapparates gegeben hat und dass aus seinen Reihen bisher niemand für Menschenrechtsverletzungen verurteilt worden ist. Es gebe keinen Willen der Behörden, den Sicherheitsapparat zu reformieren und seine Macht einzuschränken.
Die bisherige Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen unter Ben Ali durch die "Instanz Wahrheit und Würde" habe bereits gezeigt, dass der Sicherheitsapparat Straflosigkeit genießt. Ebenso blieben Fälle von Polizeigewalt, die sich nach der Revolution von 2011 ereignet haben, ungeahndet. Kritisiert wurde in diesem Kontext auch ein vorliegender Gesetzentwurf zur Ahndung von Angriffe gegen die Sicherheitskräfte.
Ich habe meine Gesprächspartner*innen auch direkt auf die in Deutschland anstehende Entscheidung zur Einstufung Tunesiens als "Sicheres Herkunftsland" befragt. Mir wurde geantwortet, dass man sich im Ausland durch die tunesischen Reformen im Menschenrechtsbereich nicht über die weiter bestehenden Probleme hinwegtäuschen lassen sollte. Wie schon erwähnt, gibt es z.B. nach wie vor Folter. Und: Es kam auch in diesem Jahr zu Fällen von erzwungenen Analtests von vermeintlichen oder tatsächlichen Angehörige der LGBTI-Community. Dies steht im Widerspruch zur offiziellen Politik: Tunesien sagte im Jahr 2017 im Rahmen des Allgemeinen Periodischen Überprüfungsverfahren (UPR) des UN Menschenrechtsrat zu, die Praxis erzwungener Analtests abzuschaffen. Das Beispiel zeige deutlich, dass die Realität mit den Reforminitiativen in Tunesien nicht Schritt hält.
Es gibt wichtige Reformen in den Bereichen Prostitution, Frauenrechte, Gewalt gegen Frauen aber bisher ändern die Gesetze die Realität vor Ort nicht. Den Reformen im Recht müssten dringend institutionelle Reformen folgen.